Ich finde die Idee von Tapio für ein Experten-Wiki gar nicht so abwegig. Er gesteht per Nebelhorn, dass
„[es ihn] geradezu in den Fingern [juckt], ein Wiki […] aufzumachen, in das jeder diejenigen Personen eintragen kann, die sich seines/ihres Erachtens zu Unrecht Experte für [setze ein: beliebiges Buzzword-Dings] nennen. Eine Blacklist sozusagen, ein Voodoo-Verzeichnis, eine Wall of Shame.“
Hintergrund ist das auch nach meiner Wahrnehmung in jüngster zunehmende meist klammheimliche Niedermachen (vermeintlicher) Experten. Liegt das an der Krise? Oder daran, dass das Thema Mainstream wird?
Natürlich funktioniert Tapios Vorhaben nicht. Nicht viele haben die Chuzpe, offen zu bekennen, wen sie für unfähig halten. Zumal, wer kritisiert, oft schnell selbst in den Fokus der Kritik rückt. Funktionierte es aber doch, wäre das Ergebnis wohl wie von Tapio prophezeit:
„Meine Befürchtung ist nur, es würde niemand übrig bleiben, mit dem man dann noch reden möchte.“
Schade, schade. Denn so kann ich leider auch nicht folgende These verifizieren. Ich bin ziemlich sicher, es würden sich klassische Lager bilden.
(Natürlich wird es eine Gruppe geben, die alle als spinnerte Scharlatane entlarven können. Vor denen zu warnen ist jedoch müßig. Wer auf die hereinfällt, braucht keine Social Media Beratung, sondern eine Portion gesunden Menschenverstand.)
Spannender wäre der Rest. Erfahrene PR-Leute schießen gegen Werber, Unternehmenskommunikatoren werfen Agenturfuzzis mangelnden Sinn für ihre Realität vor, Berater beklagen die Verkrustung bei ihren Kunden. Und alle gemeinsam belächeln die/meine Zunft der Digital Immigrants, während diese fleißig zurückfeixen.
Dabei verkennen wir alle gemeinsam das Folgende: Es gibt keine Social Media Experten. Wie auch? Viel zu jung ist dieses Feld, viel zu schnell die Entwicklung.
Experten sind wir auf anderen Feldern. Wir sind gründlich ausgebildete Kommunikatoren, kreative Grafiker, detailverliebte Programmierer, erfahrene Planer…
Allen gemein ist uns, dass Social Media – oder allgemeiner – das Internet unser Leben und unsere Arbeit verändern wird. Wir werden unser Expertentum mit den neuen Gegebenheiten abgleichen müssen. Niemandem wird es erspart bleiben, dazu eigene Erfahrungen zu machen. Noch hat jeder die Chance, sich vorsichtig auf den Weg zu machen und dabei von denjenigen zu lernen, die schon ein wenig länger unterwegs sind. So wie es @luebue für diese grandiose Personalmeldung in einem Satz sagt:
„Social-Media-Kommunikation ist keine eigene Disziplin. Es geht eher darum, alle Berater zu Social-Media-Generalisten zu entwickeln.“
Abschließend ein Geständnis: Ich setze mich selbst freimütig auf Tapios Liste. Ich bin Experte für gar nichts. Als studierter Volkswirt bringe ich dafür die besten Voraussetzungen mit. Die können bekanntlich alles, aber nichts richtig. Diesem Motto treu, arbeite ich seit meinem ersten Tag im Beruf ausschließlich in Bereichen, die ich in meinem Studium erfolgreich gemieden habe: Marketing, Vertrieb und Kommunikation. Zudem blogge und twittere ich seit Jahren ohne Netz und doppelten Boden.
Vor dem Hintergrund sollte man mich vielleicht besser nicht engagieren. Wer sich trotz allem traut, meine Kontaktdaten stehen hier.
Übrigens: Der eben zitierte @luebue macht gerade ein paar Experten nieder. Und deren Kunden gleich mit. Lesenswert! Komm, Tapio. Mach ’ne Welle ;-)
Das würde aber eine lange Liste werden. Wer kann sich heute mit Fug und Recht Experte nennen in Branchen, die es noch nicht einmal ein (halbes) Menschenalter gibt? Jemand, der selbst diese kurze „Ära“ nicht in seiner Gänze erlebt hat (zumindest nicht als Erwachsener), weil er gerade mal das dritte Jahrzehnt vollendet hat? Jemand, der nicht auf das Wissen von Generationen zurückgreifen kann, weil es noch keins gibt? Jemand, der sich lieber auf tonnenweise Analysen verlässt, als auf seinen gesunden Menschenverstand (sofern vorhanden), weil sich damit jeder Interpretationsfehler bequem entschuldigen lässt?
Ein Experte ist vielleicht ein sehr alter Bauer der x-ten Generation, der neben seinen eigenen jahrzehntelangen Beobachtungen der Natur, des Wachstums und des (Miss-)Erfolges seiner Arbeit das Wissen und vielleicht die Weisheit einer langen Reihe seiner Vorfahren zu Rate ziehen kann.
Der ist, wenn er gut ist, evtl. ansatzweise ein Experte, OHNE das je von sich selbst zu behaupten, weil er sich bewusst ist: „οἶδα οá½Îº εἰδώς“, auch ohne je von Platon oder Sokrates gehört zu haben.
Experte in new, social und sonstwas media sachen … sprechen wir in 500 Jahren mal wieder darüber!
Wenn sich auch nur ansatzweise verwirklicht, was in der Phantasie möglich ist, verändern diese verzögerungsfreien, globalen Kommunikationsformen die Menschheit weit mehr als der Buchdruck, die Entdeckung Amerikas (und des Restes der Erde) oder vielleicht die Mondlandung. Und bis dahin verändern sie sich auch noch viele Male.
Und dann wird es vielleicht auch den einen oder anderen Experten geben.
Und auch dann wird noch gelten:
Ein Experte wird ernannt, von denen, die ihn um Rat fragen, nicht von sich selbst.
@ralf: Danke für die nette Ergänzung. Ich kann nur kein Griechisch ;-)
Hier die Auflösung.
Interessant, sich das immer mal wieder vor Augen zu führen und bei der Gelegenheit auch mal einen Blick auf die Herkunft dieser häufig zitierten und stark komprimierten Erkenntnis zu werfen.
Schön auch, dass das Internet trotz aller Scharlatanerie immerhin den Zugang zu einer Menge Expertenwissen erleichtert. Damit meine ich ich jetzt nicht unbedingt die Wikipedia-Autoren, die sich aber immerhin bemühen, es zusammenzutragen und bereitzustellen.
Wirklich spannend, sich mit dem Begriff des Experten ein wenig auseinanderzusetzen, der ebenso wie vieles andere eine gewisse Inflation erfahren hat, denn er beinhaltet auch die Verantwortung für das vermittelte Wissen und die Folgen, die seine Anwendung hat.
Auch hier sei, man möge es mir verzeihen, nochmal die Wikipedia als gedanklicher Einstieg bemüht.
Und mit diesen Gedanken begebe ich mich jetzt in Morpheus Arme.
Buona notte!