Niedersachsens Schulsystem gehört gefühlt zu den schlechtesten in Deutschland. Dieses Gefühl rührt wohl nicht zuletzt daher, dass man nirgendwo sonst so lange so leidenschaftlich über Strukturen gestritten hat und diese wegen wechselnder Mehrheiten auch tatsächlich regelmäßig einschneidend geändert wurden.
Man mag bayrische oder nordrhein-westfälische Verhältnisse für schlecht halten. Aber sie zeichnen sich in der einen oder anderen Richtung wenigsten durch relative Kontinuität aus. Damit lässt sich letztlich wohl besser arbeiten als mit dem Hin- und Her in Niedersachsen.
In der Elternschaft gibt es daher schon lange den verbreiteten Wunsch, dass endlich auch hier Kontinuität einkehre. Im letzten Jahr flackerte einmal kurz Hoffnung auf: Die Ablösung der unglücklichen Kultusministerin Heister-Neumann durch Bernd Althusmann und ein neuer junger Minsterpräsident McAllister redeten von einer ideologiefreien Diskussion über die gemeinsame Weiterentwicklung von Haupt- und Realschulen. Eine neu besetzte SPD-Spitze und zur Aufgabe von Maximalforderungen bereite Grüne griffen den Ball auf.
Inzwischen zeigt sich, dass auf Seiten von CDU und FDP der Kampf gegen die – warum auch immer – verhasste Gesamtschule wieder aufgenommen wird. Anders sind die veröffentlichten Planungen für die neue Oberschule kaum zu verstehen, werden diese doch massiv gegenüber der Gesamtschule bevorzugt. Ein Schulfrieden scheint wieder ferner denn je zuvor.
Dem als moderat geltenden und durchaus dem Gymnasium zugeneigten Vorsitzenden des Landeselternrates Pascal Zimmer ist daher jetzt offenbar gründlich der Kragen geplatzt. Seinen kaum verhohlenen Missmut bringt er in einen offenen Brief an die Abgeordneten des Landtags zum Ausdruck, den ich hier vollständig wiedergebe:
Hannover, 14.01.2011
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich hoffe, Sie haben das neue Jahr gut begonnen, und ich wünsche Ihnen Kraft und Geschick für Ihre politische Arbeit und Ihnen und Ihren Familien wünsche ich eine gute Gesundheit.Als Vorsitzender des Landeselternrates wende ich mich heute gezielt an Sie alle als Abgeordnete der im Niedersächsischen Landtag vertretenen Parteien. Niedersachsens Schulen stehen mit der geplanten Einführung der Oberschule in den nächsten Jahren vor einschneidenden Änderungen. Der von den Regierungsfraktionen eingebrachte entsprechende Entwurf zur Änderung des Schulgesetzes geht Ende Januar in die Anhörung durch die Verbände. Zurückgehende Schülerzahlen, massive Probleme bei der Anwahl der Hauptschulen und der Wunsch vieler Eltern, die Option auf das Abitur für ihre Kinder möglichst lange offen zu halten, erfordern jetzt die Weichenstellung für eine zukunftsfähige Schulstruktur in Niedersachsen.
Viele Eltern bedauern es, dass mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf jetzt die Chance auf einen dauerhaften Schulfrieden für Niedersachsen verpasst wird. Bei einer Gesprächsrunde Ende September beim Landeselternrat mit den Vertretern der wichtigsten am System Schule beteiligten Verbände, den Vertretern der Kommunalen Spitzenverbände und den bildungspolitischen Sprechern der im Landtag vertretenen Parteien war eine große Mehrheit über die Eckpunkte für eine zukünftige Schulstruktur in Niedersachsen erreicht worden. Hierzu gehörte neben dem Erhalt der Gymnasien und einer größeren Flexibilität für die Schulträger auch eine Herabsetzung der Zügigkeit für die Errichtung neuer Gesamtschulen.
Viele Eltern sehen mit der Einführung der Oberschule die Chance, vielen der an unser Schulsystem gestellten Herausforderungen gerecht zu werden. Die Umstellung muss je nach den örtlichen Anforderungen Zug um Zug erfolgen, und der Weg wird nicht einfach sein, aber ein Anfang ist mit dem neuen Modell gemacht. Vielen Eltern ist aber nicht verständlich, warum eine derartige Ungleichbehandlung der Schulformen erfolgen soll.?Warum dürfen Oberschulen mit gymnasialem Zweig dreizügig errichtet werden, Integrierte Gesamtschulen aber nicht? Warum erhalten Oberschulen Schulsozialarbeiter, Integrierte Gesamtschulen aber nicht? Warum können Oberschulen sofort als teilweise gebundene Ganztagsschulen geführt werden, Gesamtschulen aber nicht?
Ministerpräsident McAllister hat zu Beginn seiner Amtszeit erklärt, seine Regierung werde die Debatte um die Schulstruktur ideologiefrei führen. Falls diese Debatte zwischenzeitlich ideologiefrei geführt worden ist, dann ist dies an mir leider vorbeigegangen. Von „ideologiefrei“ habe ich nichts bemerkt. Die Oberschule weist wesentliche Merkmale einer Gesamtschule auf, teils kooperativ, teils integriert.
Für einige von Ihnen aber darf die neue Schule auf keinen Fall Gesamtschule heißen. Für einige von Ihnen muss die Schule der Zukunft unbedingt den Namen Gesamtschule tragen. Wir streiten uns hier über Worte und Namen. Für mich ist das nicht ideologiefrei. Es geht um die Zukunft unserer Kinder. Und wenn viele unter uns und unter Ihnen Bildung als unser höchstes Gut für die Zukunft apostrophieren, dann sollten wir alle uns auch entsprechend benehmen. Nach Meinung vieler Eltern, nach Meinung des Landeselternrates, liegen die eigentlichen Standpunkte sehr nahe beieinander. Es sind nur kleine Schritte, die zum Erreichen eines Schulfriedens getan werden müssten. Warum geben Sie sich nicht alle einen Ruck und lassen Integrierte Gesamtschulen auch vierzügig errichten? Warum geben Sie sich nicht alle einen Ruck und überlassen es den einzelnen Oberschulen selbst, darüber zu entscheiden, wie sie im Rahmen der KMK-Richtlinien differenzieren möchten. Warum geben Sie sich nicht alle einen Ruck und halten das Wort Politik endlich aus der Bildung heraus? Warum geben Sie sich nicht alle einen Ruck und verständigen sich auf eine Schulstruktur, die die nächsten 10 Jahre nicht angetastet wird und die auch auf die Vorstellungen möglichst vieler niedersächsischer Eltern abgestimmt ist?Eltern haben es satt, mit Worthülsen abgespeist zu werden. Eltern haben sehr wohl ein Empfinden dafür, was passieren wird, wenn wir jetzt nicht alle gemeinsam einen Konsens über Niedersachsens zukünftige Schulstruktur erreichen. Dann nämlich werden Sie alle die Schulstruktur zum Thema des nächsten Landtagswahlkampfes machen. Das Problem für uns Eltern hierbei aber liegt darin, dass einige von Ihnen daran bereits jetzt Gefallen zu finden scheinen, weil sich hier eine Möglichkeit bietet, sich für den Wahlkampf zu profilieren. Eltern haben es satt, dass ihre Kinder zum Spielball der Politik gemacht werden. Eltern, Lehrer und Schüler haben es satt, dass an Niedersachsens Schulen dauernd neue Änderungen im Hauruckverfahren durchgepeitscht werden. Auch wenn im Moment die politischen Fronten unter Ihren Parteien und Fraktionen verhärtet zu sein scheinen, waren wir in Niedersachsen einem Schulfrieden in den letzten Jahrzehnten nie so nahe wie jetzt. Geben Sie sich alle einen Ruck und gehen aufeinander zu, um jetzt einen tragfähigen Konsens zu erreichen.?Lassen Sie uns alle die Schulstrukturdebatte jetzt zu einem einvernehmlichen Abschluss bringen. Dann können wir uns alle in Ruhe um die Verbesserung der Schulqualität und die damit verbundenen Herausforderungen kümmern.
Ich bin mir dessen bewusst, dass mich manche für einen Utopisten halten. Darauf bin ich stolz. Die Eltern in Niedersachsen erwarten und fordern, dass Sie alle sich überparteilich für die Zukunft unserer Kinder einsetzen.
Ich verbleibe mit freundlichen Grüßen.
Pascal Zimmer
Vorsitzender Landeselternrat NiedersachsenNachsatz: Der Landeselternrat vertritt rund 1,8 Millionen Eltern in Niedersachsen. Ein großer Teil der Eltern möchte seine Kinder auf Gymnasien schicken. Viele Kinder gehen an Realschulen, immer weniger an Hauptschulen, manche Kinder auf Förderschulen. Immer mehr Eltern möchten ihre Kinder auch auf Gesamtschulen schicken, mit einem anderen pädagogischen Ansatz. Wir vertreten alle diese Eltern. Dies nehmen wir sehr ernst. Wir sind nicht die „Gesamtschullobby“ und wir sind auch nicht die „Gymnasiallobby“. Wir sind die Lobby der Eltern und ihrer Kinder, mit allen ihren Facetten und unterschiedlichen Stärken und unterschiedlichen Vorstellungen. Und wir sind auch die Lobby eines Schulsystems, das diesen Facetten gerecht wird. Wir sind die Lobby von Schulen, die unseren Kindern eine begabungsgerechte Bildung vermitteln und den Bedürfnissen der einzelnen Schüler gerecht werden. Wir sind die Lobby einer Alltagszufriedenheit an Schulen für alle. Mit Lehrern und Schülern, die morgens gerne in die Schule gehen und mittags oder nachmittags vielleicht müde, aber dennoch zufrieden nach Hause kommen.
(Download des Briefes als PDF)
Hoffentlich zeigt der Brief Wirkung!
Die Schulpolitik in Niedersachsen erinnert immer mehr an einen kleinen Jungen, der mit einem Stöckchen in einem Ameisenhaufen stochert.
Eltern und Kommunalpolitiker rennen wie wild umher, um den Anschluss an die vorhandene Straße nicht zu verpassen und die Puppen (Kinder) in Sicherheit zu bringen.
Seit Jean-Pascal Zimmer den o.g. Brief geschrieben hat, ist die Entscheidung zugunsten der Oberschule, aber gegen eine integrierte Oberstufe mit Möglichkeit zum Abitur gefallen.
Ich bin jetzt seit 15 Jahren in der Elternarbeit in 5 verschiedenen Schulformen und zur jetzigen Situation gibt es einen schönen alten Berliner Spruch: „Ick kann jar nich so fiel fressen, wie ick ko… möchte.“