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Sterben I: Vor über 30 Jahren hat sich der schwule Bruder eines Jungen aus meiner früheren Grundschulklasse das Leben genommen. Der junge Mann fuhr mit seinem Wagen in einen Graben und starb. Ich erinnere mich nicht an die genauen Umstände. Aber das Bild, das damals in meinem Kopf entstand, huschte am Ostersonntag durch meinen Kopf. Ich war mit dem Rad hinter den Bornhorster Seen unterwegs und sinnierte über die tiefen Gräben beiderseits der Wege.

Ich wusste damals nicht wirklich, dass der junge Mann schwul war. Ich hatte nur Getuschel gehört. Ich wusste vermutlich auch noch gar nicht, was schwul sein wirklich bedeutet. Geschweige denn, in diesem Dorf schwul zu sein. Viel zu sehr war ich in mein eigenes Mann werden verstrickt.

In den letzten 30 Jahren hat sich viel verändert. It’s getting better. But not good enough. Auch heute verzweifeln Menschen, weil sie für ihre Geschlechtsidentität, ihre sexuelle Orientierung keinen Raum finden.

In diesem Sinne: Ich muss am Wochenende meine Nägel frisch lackieren.

Du leidest an Depressionen oder hast suizidale Gedanken! Dann hol Dir Hilfe. Zum Beispiel, ganz unkompliziert, bei der Telefonseelsorge unter 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 – oder bei zahlreichen anderen Beratungsstellen.

In 20 Minuten in the middle of nowhere: Übrigens Bornhorster Seen. Dieses Oldenburg ist mit 165.000 Einwohner ja nicht eben eine Kleinstadt. Dennoch schaffe ich es von meiner Wohnung knapp außerhalb der Innenstadt in unter 20 Minuten mit dem Rad mitten in eine Landschaft, die einsamer kaum sein könnte. Jenseits der A29 und der Baggerseen bei Bornhorst erstreckt sich eine gigantische Moor- und Marschlandschaft, in der man das Gefühl bekommen kann, aus der Zivilisation gefallen zu sein. Bis zum Horizont kein Haus und selbst an diesem sonnigen Osterwochenende keine Menschenseele unterwegs. Als ich das erste Mal da raus gefahren bin, konnte ich es kaum glauben, schon da zu sein, so nah ist das.

Bis zum ersten landwirtschaftlichen Betrieb sind es sogar nur 10 Minuten. Wer mich kennt, weiß wie glücklich mich das macht. Nirgendwo bin ich mehr zu Hause, als im Duft eines sonntäglich in der Sonne dösenden Milchviehbetriebs.

Sterben II: Wenn der Tod einmal da ist, meldet er sich offenbar gerne ein zweites Mal. In einem Roman von Rocko Schamoni fährt jemand in Dangast mit dem Auto auf den Deich. Mein Freund Frank kommentierte dazu klugescheißend, dass das in Dangast eher schwer möglich ist. Immerhin ist der Ort am ganzen Jadebusen der einzige, der auch ohne Deich bei Sturmfluten trocken bleibt. Im Klugscheißen bin ich allerdings besser als Frank. An den Ortsrändern braucht auch das kleine Dangast Deiche und am Campingplatz kann man ganz gut mit dem Auto drauf fahren.

Hab ich mal gemacht. Auch vor über 30 Jahren. Zum Knutschen nach einer Nacht am regnerischen Lagerfeuer. Für mich war das aufregend. War in der Form und mit ihr mein erstes Mal. Und auch das vorletzte.

Die junge Frau ist ein paar Jahre später an einer schweren Krankheit verstorben. Wir hatten uns nach dem Abitur aus den Augen verloren und ihr Tod war nur eine Randnotiz im hektischen Alltag. Heute geht er mir nahe.

Lesetipp: Wenn keine ganz gravierenden Gründe mich hindern, schreibe ich im generischen Femininum. Männer sind mitgemeint. So wie Frauen in den letzten 2.000 Jahren. Über diese radikale Idee und ein paar weitere kluge und weniger kluge Ideen zur gendergerechten Sprache hat jetzt mit der Linguistin Luise F. Pusch gesprochen. Lang und lesenswert.