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Guter Lokaljournalismus ist selten. Die letzte mit echter Leidenschaft gemachte Lokalzeitung, die ich in der Hand hatte, war vor vielen Jahren das Bocholter Borkener Volksblatt.

Meine späteren Heimatblätter aus den Häusern LensingWolff und WAZ-Mediengruppe waren mittelmäßig bis schlecht gemacht. Und dem hiesigen Gemeinnützigen eilte auch nicht eben ein großer Ruf voraus.

Umso überraschter war ich, als ich nach unserem Umzug vor einem Jahr erste Erfahrungen mit diesem Lokalteil der NWZ machte. Die Vareler Redaktion liefert auf den ersten Blick solide Arbeit ab:  In der Regel drei gut gefüllte Seiten über Varel, lesbare Texte und durchaus spannende Serien – etwa über die vielfältigen Lebenskonzepte von Vareler Familien. Das war mehr, als ich nach meinem Leiden am Lokalen in Bochum erwarten konnte.

In einem Punkt aber – das wurde ebenfalls schnell klar – tut sich der Gemeinnützige schwer: Die zunehmend komplexen Vorgänge der Vareler Lokalpolitik im Allgemeinen und die Selbstauflösung der SPD im Besonderen wurden immer wieder seltsam unvollständig bis unverständlich dargestellt.

Der Grund dafür liegt vielleicht darin, dass sich sowohl die Redaktion aber auch die politischen Akteure noch längst nicht darauf eingestellt haben, dass Vareler Politik seit der letzten Wahl ein wenig komplexer geworden ist. Um Zugang zu den wichtigsten Informationen zu haben, reichte es in Varel über Jahrzehnte  zur immer selben Person guten Kontakt zu halten.

Diese Zeiten sind vorbei: Die SPD ist zutiefst zerrüttet und hat im Rat keine Mehrheit. Die Tagespolitik wird vom Bürgermeister und neuen bunten Mehrheiten bestimmt.

Wer die Vorgänge innerhalb der SPD durchdringen will, müsste mit zahlreichen Menschen sprechen. Und auch in der sich gerade erst formierten Ratsmehrheit gibt es nicht mehr den einen Ansprechpartner, sondern viele Personen, die um Standpunkte ringen. Darunter vielleicht auch solche, die im Umgang mit der Presse (noch) nicht so geübt sind. Oder solche, die – vielleicht nicht ganz unberechtigt – ein wenig  Misstrauen gegenüber der Vareler Redaktion hegen.

Der Fairness halber muss erwähnt werden, dass es zwischenzeitlich erste Ansätze zu einer sich verändernden Berichterstattung  und Kommentierung gab. Nachhaltig war das aber nicht.

Am letzen Sonnabend dann hatte man plötzlich den Eindruck, als wolle der Gemeinnützige alle Versäumnisse der zurückliegenden Monate an einem Wochenende vergessen machen. Stutzig machte manchen jedoch vielleicht, wieso sich eigentlich mit Frank Jungbluth der Chef vom Dienst – also gewissermaßen die Nr. 3 in der NWZ-Hierarchie – so massiv in die Vareler Redaktion einbrachte.

Inzwischen wird der Hintergrund dazu ein wenig klarer. In einem offenen Brief, der mit zugespielt wurde, haben sich 50 Vareler Persönlichkeiten äußerst kritisch über die Arbeit der NWZ geäußert. Dieser Brief sollte wohl am Sonnabend als Anzeige im Gemeinnützigen erscheinen, was seitens der NWZ jedoch unterbunden wurde.

Statt dessen soll es – so ist zu hören – zu sehr deutlichen Worten und auch Maßnahmen seitens der Chefredaktion gegenüber den Vareler Kollegen gekommen sein. Unter anderem hat sich offenbar der Chef vom Dienst persönlich in die Arbeit in Varel eingebracht. Ein in dieser Form höchst ungewöhnlicher Vorgang.

Grundsätzlich bin kein Freund davon, wenn „wichtige Leute“ mit ihrem Einfluss auf Zeitungen einwirken. Dieser Fall ist jedoch so gelagert, dass ich ihn für verträglich halte. Zwar nimmt der Brief deutlich Bezug auf die Berichterstattung rund um die SPD und den Bürgermeister, er unterstellt aber nirgendwo unzulässige Parteiname bzgl. bestimmter Personen oder Parteien. Kritisiert werden lediglich journalistische Nachlässigkeiten wie mangelnde eigene Recherche, fehlende kritische Nachfragen und eine zu geringe Gewichtung politischer Themen. Zudem wird die Kritik umfassend nachvollziehbar begründet.

Außerdem ist festzuhalten, dass die Unterzeichner ganz überwiegend bislang kaum öffentlich in Erscheinung getreten und politisch nicht gebunden scheinen. Im Fazit des Briefes fordern sie zudem nicht mehr als journalistische Selbstverständlichkeiten ein: Umfangreiche, zeitnahe und sorgfältige Recherche und Berichterstattung zu politischen Themen.

Von der Existenz des Briefes wissen inzwischen offenbar viele Vareler. Gelesen haben ihn ebenfalls manche. Ich denke daher, dass es an der Zeit ist, ihn öffentlich zu machen, was ich hiermit tue.

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Ich bin auf die weitere Entwicklung mehr als gespannt. Nicht nur inhaltlich, sondern auch journalistisch.